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Zeit.

Aktualisiert: 19. Apr.

Das eigene Leben in der Halbzeit reflektieren. Wohin führen uns die Pfade in der Mitte des Lebens? Was davon nehmen wir mit, was bewusst nicht?

Tick Tack. Eine Wortpaarung, die jedem Kind vertraut ist. Tick Tack. Zwei Wortlaute, die dem Leben Raum schenken. Oder in den Worten von Byung-Chul Han, dem deutsch-koreanischen Philosophen: Die Einhausung. Tick Tack hilft uns Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden. Auch mittels Ritualen, wie Byung-Chul Han meint. Und da sind sie wieder: die Themen Zeit, Endlichkeit und Vergänglichkeit. Dinge, die mich gedanklich fordern. Anstrengen. Wehmütige Gedankenstrudel. Gedanken, die wie ein Nebelschlund, der sich einem herbstlich-nass-kalten Tal entlangschleicht, mich begleiten und ratlos zurücklassen. Und ob unbewusst oder auf dem selektiven Ohr wahrgenommen, flechten sich Zeit-Gedanken in meinen Alltag ein. Ähnlich einer Wabenstruktur, der sich Wabe um Wabe dazugesellt, zeit- und endlos. Unendlich also. Und gleichzeitig widerspricht ein unendliches Gedankenspiel dem mir bewussten Endlich-Sein des ICHs. Die Zeit, das nicht fassbare Ding, wird zugänglich mit dem gleichmässigen Tick Tack. Gerade in den anstrengenden Momenten beruhigt mich der Gedanke, dass die Zeit das einzig wirklich Faire unserer Menschheit ist. Egal ob arm oder reich. Der Reiche kann sich nicht mehr Zeit kaufen. Doch kann er sich mehr Zeit leisten? Was, wenn die Zeit ein Preisschild hätte? Der Zeit eine ökonomische Grössenordnung zuzuschreiben übersteigt mein Intellekt, vielleicht auch meine kognitive Vorstellungskraft. Und ehrlicherweise auch mein Interesse. Vielmehr ist es die Endlichkeit des Lebens, die mich interessiert. 4000 Wochen soll ein durchschnittliches Leben dauern. Nun, rein rechnerisch bin ich bald in der Mitte des Lebens angekommen. Statistisch gesehen lässt sich die Mitte des Lebens gut errechnen, gesellschaftlich gesehen eher weniger. Die Mitte des Lebens erstreckt sich, den Schlussfolgerungen meiner Lieblingsphilosophin Barbara Bleisch zufolge, vom 40. bis zum 60. Altersjahr. Wobei der Anfang und das Ende keinen klaren Schnitt kennen, vielmehr einem Zerfransen ähneln.


Um bei einem weiteren philosophischen Zitat zu bleiben: Die Frage ist nicht, wie alt man ist, sondern vielmehr, wie man alt ist. Elke Heidenreich, deutsche Bestsellerautorin und Literaturkritikerin, beschreibt genau dies in ihrem Buch Altern in gewohnt schnörkelloser Manier. Mit jedem Tick Tack schreite ich in kleinsten Bewegungen dem Lebensende entgegen. Dieser Weg ist voll mit Entscheidungen: grossen und kleinen, relevanten und vernachlässigbaren, einschneidenden und mutigen, überlegten und emotionalen. Doch an einem Punkt im Leben ist zumindest eine unumkehrbare Entscheidung getroffen. In der Mitte des Lebens ist beispielsweise die Familiengründung – Kinder ja oder nein – entschieden. Oder der berufliche Pfad für die nächsten Jahre liegt vor. Manche mögen einwenden, dass dies so nicht ultimativ in Stein gemeisselt sein muss. Ja, denen gebe ich recht. Zu bedenken möchte ich all jenen entgegenhalten, dass die Anzahl der Menschen reflektiert werden sollte, bei denen die vollständige Entscheidungsfreiheit bis ins hohe Alter vollends vorhanden ist. Die assistierte Sterbebegleitung ist wohl die letzte wirklich relevante Lebensentscheidung.


Mir gefällt der Gedanke des Hochplateaus, den Barbara Bleisch in ihrem neuesten Buch beschreibt. Ausgangspunkt bildet der Lai Nair im Engadin, der von Lärchenwäldern und Felswänden umsäumt ist. Nach langer Wanderung auf dem majestätischen Hochplateau angelangt, ist der Moment gekommen, durchzuschnaufen und darüber zu sinnieren, in welche Richtung es überhaupt noch weitergehen soll – und kann: just das zu tun, was erst möglich wird, wenn der Aufstieg getan und schon viele Schritte gegangen sind. Von diesem Moment an führen die Pfade nur noch hinab. Um beim Ausgangsbild des Hochplateaus zu bleiben, ermöglicht dieses Bild das Skizzieren einer Art Kartografie, wie Barbara Bleisch es beschreibt. Der Blick über seine eigene Karte, das eigene halb gelebte Leben schweifen lassen und am Horizont erkunden, wohin einem die Pfade noch führen könnten.


Vielleicht ist gerade dieser Blick auf das eigene Leben und seine endliche Natur die wahre Erkenntnis. Denn was ist ein Leben ohne das Bewusstsein seiner Vergänglichkeit? Was ist Zeit, wenn wir uns nicht regelmässig an die Unvermeidlichkeit ihres Endes erinnern? In dieser Erkenntnis liegt eine paradoxe Freiheit: Die Endlichkeit des Lebens zwingt uns nicht zur Resignation, sondern zu einem bewussteren Leben. Es ist gerade die Zerbrechlichkeit, die uns dazu auffordert, jeden Moment zu schätzen, jede Entscheidung, die wir treffen, zu hinterfragen und zu würdigen. Es ist die Endlichkeit, die uns ermöglicht, Bedeutung zu schaffen, indem wir unseren Weg, unsere Pfade bewusst und mit Bedacht wählen.


Und so schliesst sich der Kreis der Tick-Tack-Zeit: Sie lehrt uns nicht nur, wie wir uns in der Welt zurechtfinden, sondern auch, wie wir lernen, mit der Gewissheit unserer Vergänglichkeit zu leben und in ihr einen Sinn zu finden. Die Zeit mag unerbittlich voranschreiten, doch in jedem Tick steckt die Möglichkeit für das, was wir daraus machen können. Und vielleicht ist es gerade diese Möglichkeit, die der wahre Wert der Zeit ist.

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