top of page

Abschiedsfarben.

  • Daniel
  • 24. März 2023
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Apr. 2023

Eine Erfahrung vom Abschied nehmen. Über Hochs und Tiefs. Darüber, wie es ist, eine Entscheidung und zugleich Verantwortung für den Tod eines Anderen zu übernehmen.

Nun ist es gewiss. Oder zumindest scheint es so. Gewissheit darüber zu erlangen, über den richtigen Moment. Den richtigen Zeitpunkt. Den richtigen Entscheid. Das richtige Handeln. Oder überhaupt, ob es das Richtige ist, diese Gewissheit hatte ich nie. Gibt es denn überhaupt das Richtige? Möge es die 100%zige Gewissheit nie geben, so ist das Abschiednehmen eine innere Zerreissprobe.

"Abschied ist ein bisschen wie Sterben"

Dieses Zitat entnahm ich einem Gespräch zwischen dem deutschen Buchautor Bernhard Schlink und der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch. Darunter verstehe ich, dass für Hinterbliebene beim Abschied nehmen immer auch ein Stück Vertrautheit verloren geht. Ich erkenne mich ich diesem Gedanken sehr gut. Abschied von unserer liebevollen Hündin Gioya zu nehmen bedeutet für mich auch ein bisschen Sterben. Es ist ein Verlust. Verlust von uneingeschränkter Zugewandtheit. Bedingungslosem Dasein. Ein Stück weit auch von Zuhause sein und fühlen. Abschied nehmen im Alterungsprozess von Gioya ist gewiss kein abrupter Abschied. Es war ein Prozess. Im ganzen Prozess des Abschiednehmens war die Gefühlswelt eine Art Ping Pong von Emotionen. Ping Pong zwischen Bauch und Kopf. Zwischen Emotionen und Rationalem. Insbesondere im letzten Zeitabschnitt des Abschieds.


Ich mag mich gut an den einen Augenblick erinnern, an dem wir ein weiteres Mal zur Tierärztin des Vertrauens gingen. Ein weiteres Mal versuchten wir in Worte zu fassen, wie wir den Gesundheitszustand von Gioya einschätzen. Wie hoch wir die Lebensfreude und die Lebensqualität einschätzen. Ob wir hundegerecht den Alterungsprozess begleiten und unterstützen. Mit dem Gedanken im Unterbewusstsein darüber, dass es womöglich einer der letzten Tierarztbesuche sein wird, warteten wir gebannt auf die Einschätzung der Tierärztin.

"Medizinisch ist alles ausgeschöpft". So lautete schlussendlich die Einschätzung der Tierärztin. Dieser eine Satz prägte sich tief im Kopf ein. Und schlug zugleich tief im Herz und Bauch ein. Es war vielleicht diese zu Beginn beschriebene Gewissheit, dass der definitive Abschied näher rückt. Nicht unmittelbar. Nicht sofort. Aber absehbar. Bald wird dieser Moment da sein. Dann womöglich, wenn der Bauch bestimmt und klar Ja sagt. Nach dem Besuch bei der Tierärztin war da ein Gefühl von Leere. Trauer. Ohnmacht. Teils auch Erleichterung. Erleichterung darüber, dass im Sinne für das Tier richtige, faire, zumutbare, tiergerechte und tierwürdige entschieden wird. Dennoch fühlte ich mich gelähmt. Das Gefühl von Trauer überragte diesen Moment und die folgenden Minuten und Stunden. Es war ein Realisieren darüber, dass die Suche danach, was ja eigentlich noch möglich ist, nicht zwingend im Sinne von Gioya sein muss. Es gibt keine sonst wie üblich logische Checkliste. Kein Soll-IST Vergleich. Keine tabellarische Auflistung von "möglich" und "nicht mehr möglich". Rein rechnerisch und sachlich konnte nichts helfen, um einerseits eine klare Gewissheit zu erlangen oder anderseits eine definitive Entscheidung zu treffen. Und im Nachhinein betrachtet bin ich froh darüber, dass keine Zahl oder ein Prozentwert den Ausschlag gab, ob der Zeitpunkt des Sterbens da ist. Sondern vielmehr das Herz und der Bauch, der die Zeichen der Minuten und Stunden, der Momente erkennen soll. Der oft umgangssprachlich genannte Spruch "Eine Sache übers Herz bringen" erlebte ich wortwörtlich als Prozess. Obgleich die eine Sache ein Leben bedeutet, so war dieser Prozess für mich wichtig. Es war keine Schnellschuss-Entscheidung. Keine Überreaktion. Es war gewissermassen ein Abfinden der Situation. Der Ausgangslage. Der oben erwähnte Satz war vielleicht sogar notwendig, um dem diffusen Gefühl etwas mehr Klarheit zu verschaffen. Dennoch schweiften verschiedene Gedanken im Kopf umher. Aktuelle Gedanken. Gedanken an die Zukunft wie auch an Gewesenes. Inwiefern ist ein Abschied planbar? Was gilt es formell und rechtlich zu bedenken? Wie verläuft der Sterbeprozess? Haben wir alles menschenmögliche im Sinne für Gioya getan? Wie fühlt Gioya im Moment? Diese und viele weitere Fragen und Gedanken beschäftigten mich. Glücklicherweise war für uns bereits sehr bewusst und klar, was nach dem Sterben passieren wird. Wir haben uns damit bereits vor Monaten auseinandergesetzt und gewisse Punkte für uns entschieden. Dies beruhigte mich. Und zugleich ermöglichte es uns, das Hier und Jetzt, die Gegenwart zu geniessen und uns voll auf die Bedürfnisse von Gioya einzulassen.


Der Besuch bei der Tierärztin war wichtig. So durften wir mit dem Wissen nach Hause gehen, dass die kommenden Tage die letzten sein werden. Dazu gehörten viele emotional schwierige Situationen. Wir vereinbarten, dass wir für uns den so schwierigen richtigen Moment abwarten wollen. Es sollte dabei keinesfalls ein Hinauszögern sein. Vielmehr ein würdevoller Abschiedsprozess für Tier und Mensch. Im Bewusstsein, dass wir eine sehr hohe Verantwortung tragen. Eine Verantwortung über die Lebensqualität. Dem tiergerechten Leben. Einem würdevollen Leben. Einem lebenswerten Leben ohne bzw. so wenig wie möglich Schmerz. Vergleichbar mit einer Palliativpflege versuchten wir bestmöglich den Bedürfnissen von Gioya gerecht zu werden. Ruhiges Handeln. Grösstmögliche Freiheit. Verständnis und fürsorgerische Betreuung und Pflege standen im Vordergrund. Gioya gab uns schlussendlich das Zeichen bzw. wir verstanden, dass nun der Moment zur Erlösung da sein darf. Der Tod darf sein. Das war für mich wichtig. Es darf sein. Gemeinsam mit der Tierärztin begleiteten wir Gioya an ihrem Lieblingsplätzchen ins tiefe Schlafen. Sanft und langsam überquerte sie den Regenbogen. Sie schenkte uns noch ein paar intime, persönliche Minuten, bevor wir gemeinsam die nächsten Schritte des Abschiedsprozess in Angriff nahmen. Diese Momente sollen intim und persönlich bleiben und werden daher hier nicht weiter beschrieben.


Der Blogtitel ist inspiriert durch das gleichnamige Buch von Bestsellerautor Bernhard Schlink. Er verfasste mit seinem Buch "Abschiedsfarben" verschiedene Geschichten über Abschiede. Über Abschiede, die bedrücken oder befreien. Über das Gelingen und Scheitern der Liebe, über Vertrauen und Verrat, über bedrohliche und bewältigte Erinnerungen und darüber, dass im falschen Leben oft das richtige liegen kann und im richtigen das falsche. Mir persönlich gefällt der Begriff Abschiedsfarben sehr gut. Er umschreibt in einem Wort die Vielschichtigkeit des Abschieds. Aber auch die Eigenartigkeit, die Eigenständigkeit von Abschied. Und vor allem die Individualität von Trost, Trauer, Hoffnung, Erleichterung, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Sorgen, Überforderung, Ruhe und Ungewissheit.


Gioya begleitete uns gut drei Jahre, nachdem wir sie nach einem kurzen Aufenthalt aus einem Tierheim zu uns holten. Die Vorbesitzerin ist an Krebs erkrankt und konnte die Betreuung im letzten Lebensabschnitt von Gioya nicht mehr gewährleisten. Gioya hat mein Leben bereichert. Mit allen Hochs und Tiefs. Wir versuchten bestmöglich Gioyas Abschiedsschmerz von der Vorbesitzerin wegzumachen, indem wir auch ihr Leben mit vielen schönen Momenten bereichert haben. Abschied ist ein bisschen wie Sterben. Gioya nahm Abschied von ihrer Vorbesitzerin und fand bei uns ein Plätzchen für ihren Lebensabend. Wir nehmen Abschied von Gioya und behalten sie für immer in unseren Herzen. Ich vermisse sie. Sie wird immer ein Teil meines Lebens, meiner Erfahrung bleiben. Darüber bin ich sehr dankbar.

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


Inputs. Fragen. Anmerkungen.
Wir freuen uns auf dein Feedback! 

Danke für deine Nachricht

Impressum      Datenschutz       Netiquette

© 2025 Gedankenchuchi

bottom of page