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Klarblick.

  • Daniel
  • 15. Feb. 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Der Blick auf das was ist, ist immer auch eine Frage der Perspektive. Erfahre im zweiten Teil der Geschichte von Jonas, welche Einsicht er für sich erlangt.



Raus aus dem miefigen Büro. Das war sein oberstes Ziel. Der buchhalterische Quartalabschluss ist geschafft. Wie immer ein Murks. Da fehlten die Belege, dort die Kontierungen, hier die Währungsmittelkursbereinigungen. Nur noch raus! Das war es, wonach Jonas in diesem Moment sehnte. Raus an die frische Luft. An die Luft, die an diesem spätwinterlichen Donnerstag nicht mehr ganz eisig, aber immer noch zu kalt war, um längere Zeit auf seiner Lieblingssitzbank am Ufer des Sees zu verbringen. "Kurz mal durchatmen" sagte er zu sich, mehr zur eigenen Motivation und Bestätigung. Jonas sieht sich nicht als Buchhalter, oder als Finänzler, wie ihn seine Freunde neckisch nennen. Sein Vater hatte grosse Pläne und sah in Jonas den nächsten grossen Finanzjongleur. Doch als Mittdreissiger spürte Jonas, dass ihm diese Finanzwelt nicht behagt. Das Ende des linken Seeufers war seine Ruhe Oase. Sein Ort, an dem er den Blick über den glatten See gen Norden bis hinter den Horizont richten und all seine Gedanken hineinwerfen konnte. Es ist der Ort, den er immer dann aufsucht, wenn ihn seine Gedankenwelt aufwirbelt. Heute war so ein Tag. Nicht nur des Quartalabschlusses wegen, auch sonst. Vielleicht ist Jonas ein Eigenbrötler. Vielleicht aber einfach nur müde. Müde von seinem Leben. Seinem Leben voller Anpassungen, selbst auferlegten Einschränkungen und fremd aufgebauten Grenzen. Müde, weil er immer allen alles recht machen will. Soziale Kontakte waren für ihn ein Graus. Er bevorzugte das Alleinsein. Und allein konnte er sein, auf seiner Sitzbank am linken Seeufer. Dort konnte er seine Freizeit verbringen. Wortwörtlich, seine freie Zeit. Diese nutzte er für sich selbst. Denn Zeit mit sich und all den hunderten Gedankengängen zu verbringen waren soziale Interaktionen genug für ihn.


An diesem Donnerstag war irgendetwas anders. Der See spiegelte wie üblich die Häuserkulisse in Seeufernähe. Wolken zogen zügig über seinen Kopf hinweg. Von weitem war das Glockenspiel der örtlichen Kirche zu hören. Ein Hinweis, dass es bereits 18 Uhr sein dürfte. Gelegentlich kreuzten Spaziergänger, mal allein, mal zu zweit, sein Idyll. Eigentlich wie immer. Nur störte heute ein Junge weit vorne in Wassernähe das bekannte Bild. Jonas beobachtete den Jungen von seiner Sitzbank aus. Nennen wir ihn Noah. Noah müsste schätzungsweise aufgrund der Grösse und seiner Körperdimension achtjährig sein. Allein wuchtete Noah kleine und grosse Steine aus dem matschigen Sandgemisch. Warf sie mit grösster Anstrengung ins Wasser, als ob er das Ziel verfolgte, seinen eigenen Wurfrekord im Steinwerfen zu brechen. Jonas erkannte sich in dieser Szene. Er tauchte tief ein in seine eigene Vergangenheit. Eine durchzogene. Während des Beobachtens war das Gesicht von Noah zu Jonas abgewandt. Umso mehr interpretierte Jonas in der Rolle des Zuschauers. Wie schön ein Moment sein mag, wenn keine Grenzen gesetzt werden. Wenn man Kind sein darf. Die Welt um sich herum naiv erfassen und entdecken kann. Sich eigene Spielregeln ausdenken. Möglicherweise Selbstgespräche führen. Sich lobt. Tadelt. Anspornt. Wie frei man sich fühlen kann. Gedanklich zoomte Jonas das warmherzige und intime Bild, das sich ihm mit dem Jungen bot, hinaus. Mit dem Hinauszoomen eröffneten sich neue Perspektiven und der Blick auf den Jungen und seiner Umgebung wurden detailreicher. Die Umgebung wurde klarer. Bunter. Schöner. Grösser. Das Ufer schien endlos. Hie und da war vertrocknetes Seegras zu erkennen. Enten schwudern im Wasser. Sanft brachen die Wellen das Wasser an den Steinen. Die Geschichte ergriff Jonas und er fügte sich unaufdringlich in das Bild ein. Und mit jedem Zentimeter Zoom war langsam zu erkennen, dass nicht Noah es war, der dort friedlich spielte. Die Blickrichtung änderte durch das Hinauszoomen den Winkel von der Sitzbank zum Jungen. Das erste Mal kreuzten sich die Blicke. Und Jonas erkannte den leeren, gedankenverlorenen, hilfesuchenden Blick. Es war Itamar. Ein Flüchtlingsjunge. Jonas erkannte sofort den Blick. Ein Blick, der nur jemandem ins Gesicht geschnitzt sein kann, der schweres erlebt hat. Itamar war damals das soziale Vorzeigeprojekt von Jonas. Als im Dorf ein Kinderintegrationsprogramm für Kinder und Minderjährige lanciert wurde, war es Jonas, der dem ganzen Projekt zum Erfolg verhalf. Itamar wuchs ihm dabei besonders ans Herz, weil er - im Gegensatz zu Noah - keine Freiheiten hatte. Itamar lernte früh sich in seiner Kindheit anzupassen. Er war gefangen in den durch die Eltern auferlegten und dem restriktiven Regime geschuldeten länderbedingten Grenzen. Und so war es Jonas, der einen Vaterinstinkt entwickelte. Er ermöglichte Itamar ein aus seiner Sicht kindergerechtes Leben. Mit all den Vorzügen, die Jonas vielleicht insgeheim für sein achtjähriges Ich wünschte. Ein Ich, dass ihn bei Noah berührte.


Schlagartig erwachte Jonas aus seinem Gedankenstrudel. "Fuck!" rief er. Hektisch schaute er sich um. Er suchte das Seeufer ab. Blickte nach rechts, nach links. Drehte sich um. Weder Noah noch Itamar waren zu sehen. Er wiederholte: "Fuck!". Sein Blick war starr und zum See gerichtet. Beide Augen kanalisierten den Blick in Form eines Tunnels. Der Blickradius war eng. In der Mitte war der Blick klar und scharf, je weiter aussen desto schwammiger, blasser und verpixelt wurde er. Jonas richtete sich auf. Rieb seine mittlerweile kalt gewordenen Hände. Starrte sie an, hob sie und fasste sich ans Gesicht. Er bedeckte mit seinen Handinnenflächen die Augen. Durch die intensive Reibung waren die Hände immer noch warm. Die Wärme beruhigte die Augäpfel. Jonas entspannte sich. Minutenlang sass Jonas reglos da. Er versuchte das vorherige Gedankenspiel zu rekonstruieren. Sich die Szenerie möglichst realitätsecht vorzustellen. Und abzuleiten, was das wohl mit Jonas, mit seinem Ich zu tun hat. Die langwierige Reflexion mündete schlussendlich in der Einsicht: Jonas der Finänzler ist tot. Jonas der freiheitsliebende, unabhängige, unternehmenslustige und welterkundende lebt.


Die Etymologie des männlichen Vornamens Itamar (אִיתָמָר) ist unklar. Möglicherweise bedeutet der Name "die Palmeninsel", "die Küste der Palmen" oder auch "Wo ist die Palme?" um im übertragenen Sinn "Wo ist die Süße?". Der Ursprung liegt wahrscheinlich in den althebräischen Namensbestandteilen i für "wo" und tamar für "(Dattel-) Palme". Der Name könnte aber auch nicht-hebräischen Parallelen stammen.

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