Unverbindlichkeit.
- Daniel
- 18. Nov. 2023
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Nov. 2023
Tugenden ermöglichen ein gemeinsames Verständnis von Miteinander. Wenn gesellschaftliche Tugenden bröckeln, was passiert dann mit uns? Mit mir?

Allgemein gelten Präzision, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Diskretion zu den als typisch zu bezeichnende Tugenden von uns Schweizern. Diese durchaus als positiv zu wertende Charaktereigenschaften zeichnen uns aus und sind aus moralischer Sicht her erstrebenswert. Nun erkenne ich mich in den meisten dieser Tugenden und kann mich damit identifizieren. Meine Werte und Grundüberzeugungen münden vor allem in zwei der oben aufgeführten Tugenden: Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Diskretion wohl auch, aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit. Nun mögen diese Charaktereigenschaften in gewissen Kulturkreisen als Korsette der Lebensfreude und Leichtigkeit gelten. Für mich hingegen ist die Verlässlichkeit eine der wichtigsten Persönlichkeitsmerkmalen. Auf mich soll Verlass sein. Nun ertappe ich mich des Öfteren darin, dass ich dieses Selbstverständnis anderen Personen überstülpe. Vereinbart ist vereinbart - So meine Grundüberzeugung. Dass ich damit mir selbst und anderen keinen Gefallen tue, ist daran erkennbar, dass die Grenzen und das Verständnis von Verbindlichkeiten fluid werden. Verbindlich ist nur noch gerade das, was einem persönlich in den Kram passt. Auffällig wird das Phänomen des unverbindlichen Zusagens. Wir sind Vielbeschäftigte, ja. Und so sagen wir aus einem Impuls heraus einem Sommer-Grillabend mit Freunden zu. Zeitgleich findet eine Vernissage eines Bekannten statt, zu der man sich bereits vor Monaten angemeldet hat. Und plötzlich ploppt eine WhatsApp der besten Freundin auf "Heute 19 Uhr, Cocktailabend, spontan Lust?". Und die Antwort aus einer euphorischen Haltung heraus: "Ja voll!". Drei Zusagen. Drei Optionen. Dreifache Vorfreude beim jeweiligen Gegenüber. Zugleich dreifaches Frustpotenzial bei einer möglichen Absage. Und vielleicht sogar ein wenig ein schlechtes Gewissen einem selbst gegenüber, dass offenbar das eigene Terminmanagement nicht optimal funktioniert. Das ist die eine Unverbindlichkeitsvariante. Die zweite fällt mir fast noch mehr zuwider: Das latente Ungewissen. Ein Terminvorschlag für beispielsweise ein Essen wird, wie so oft per WhatsApp verschickt. Und dann, gähnende Leere und fast schon zu friedvolle Stille. Für ungewisse Zeit. Es scheint so, als ob sich das Gegenüber in der vorhin beschriebenen Situation befindet. Seit Albert Einstein wissen wir, dass Zeit relativ ist. Doch trotz seiner Erkenntnis läuft die Zeit ungehindert weiter. Der einst als Terminvorschlag angefragte Tag rückt näher und weiterhin kein Ja oder Nein in Sicht. Eine Unruhe macht sich in mir breit. Sie wabert in mir, da der vorgeschlagene Termin zugesagt und gleichermassen abgesagt werden könnte. Bei einer Zusage bricht Hektik aus, weil kurzfristig ein für beide passendes Lokal gefunden werden soll. Bei einer Absage kommen Gefühle des Ärgers hoch und der Frage nach meiner Wertigkeit. Eine andere Person scheint wichtiger zu sein als ich? Nun dies ist keine Frage zu meinem Ego oder der sonst so allseits bekannten und gleichermassen berüchtigten Zürcher Arroganz. Es ist eine zutiefst innerliche, persönliche und berechtigte Frage. Ja es macht etwas mit mir - auch wenn nur im Unterbewusstsein. Es ist das Unbehagen, ein Gelähmtsein über die Gesamtsituation.
"Freundschaft heisst: Ich bin bedingungslos für dich da! Du bist mir wichtig!"
Längst hat das Rückversichern über den vereinbarten Termin beim Gegenüber Einzug gehalten. Kurz davor erkundet man sich heutzutage: "Gäll, heute um 19 Uhr, ist für dich immer noch gut?". Oder etwas blumiger formuliert "Ich freue mich auf dich, könnte bei mir etwas später werden. Sicher aber um halb acht bin ich da". Solche oder ähnliche Nachrichten zeugen von einer gewissen Unsicherheit. Weil offenbar jedermann und -frau davon ausgehen muss, dass das Date zu einen von vielen Optionen für den heutigen Abend zählt. Das sonst schon komplexe Leben wird so unnötig kompliziert. Und ja, es gibt immer Ausnahmen. Notfälle. Unvorhergesehenes. Und auch der berufliche Alltag ist durch getaktet. Ich versuche, auch dank dem Bewusstwerden meiner Endlichkeit, die Prioritäten so zu setzen, dass der berufliche Alltag nicht ständig und immer mein Privatleben tangiert. Private Kontakte haben genauso eine Wichtigkeit wie berufliche. Der oben erwähnte Grundsatz "Vereinbart ist vereinbart" hat eine unterstützende und wohltuende Art. Ist ein Essen fix vereinbart ist dieser Abend geblockt. Schluss. Aus. Komma. Punkt. Unverhandelbar. Kommen neue Anfragen hinzu gilt es, einen alternativen Tag zu finden. Dadurch werden faire, klare, transparente und freundschaftliche Verbindlichkeiten geschaffen. Für mich und dich. Verbindlichkeit heisst ja nicht, dass keine Flexibilität mehr möglich ist. Oh, wie toll finde ich ein unbekümmertes, spontanes "Auf-einen-Drink-gehen". Denn ich selbst zähle mich zur Personengruppe, die Flexibilität, Spontanität, Unbeschwertheit leben. Aber halt nur dann, sofern es der Tag, die Situation erlaubt.
Versetzt werden ist uncool. Jemanden versetzen ebenso, wechselseitig halt. Ein Minimum an Achtung und Anstand meinem Gegenüber, seiner Persönlichkeit ist meiner Ansicht nach eine der relevantesten Spielregeln für ein gutes Miteinander. Die beiden Tugenden Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit mögen vielleicht in einer 7x24 Stunden Gesellschaft konservativ, gar spiessig wirken. Dennoch schaffen Sie Verbindlichkeiten. Und wenn etwas für uns als Gesellschaft wichtig sein sollte, dann doch zumindest das gleiche Verständnis von Verpflichtungen. Halt eben vielleicht langweilig, aber dafür umso entspannter.
Comments