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Verbundenheit.

Unausgesprochene Bedürfnisse und nicht besprochene Konflikte. Wenn beim Abschiednehmen die Vergangenheit offene Wunden in die Gegenwart bringt und das eigentliche Verbundenheitsgefühl alte Wunden heilt.

Alte Wunden in Freundschaften sitzen oft tief. Der eigentliche Grund für diese Verletzungen ist genauso oft unbekannt wie die aktuelle Lebenssituation des einst so geliebten Menschen – sei es eine gute Freundin, ein Familienmitglied oder ein ehemaliger Kollege. Die Geschichte von Hans (gespielt von Jörg Schneider) aus dem Schweizer Film Usfahrt Oerlike bewegte mich zu diesem Beitrag. Hans, 80 Jahre alt, Witwer und Vater eines Sohnes, hat seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr zu ihm. Hans ist einsam, nicht zuletzt, weil er kürzlich seinen geliebten Hund einschläfern lassen musste. Einzig sein Freund Willi (gespielt von Mathias Gnädinger) leistet ihm Gesellschaft. Hans und Willi verbindet eine langjährige Freundschaft durch ihre gemeinsame Zeit in einer Band. Doch Hans ist in seiner Mobilität eingeschränkt, und das Leben in seinem Haus wird zunehmend unmöglich. Sein Arzt weist ihn schliesslich in ein Altersheim ein – ein Graus für Hans. Anfangs blockt er sämtliche soziale Interaktionen mit den Bewohner:innen und seiner Pflegeassistenz ab. Willi versucht vergeblich, den Sohn von Hans zu einem Besuch zu überreden. Doch auch dieser bleibt stur. Kein Wort soll zwischen Vater und Sohn ausgetauscht werden. Hans ersucht Willi schliesslich, ihm ein Präparat zu besorgen, mit dem er seinem Leben ein Ende setzen kann – schnell und schmerzlos. Willi ist hin- und hergerissen, besorgt das Mittel aber schliesslich bei seiner Nichte und übergibt es Hans, nachdem dieser einen Schlaganfall überstanden hat. Unabhängig von diesem Ereignis überzeugt der Lebenspartner von Hans’ Sohn diesen, mit seinem Vater Kontakt aufzunehmen. Überraschend und unverkrampft kommt es zu einem Treffen zwischen Hans und seinem Sohn. Die Begegnung scheint eine Möglichkeit für Versöhnung zu bieten. Doch die Einsicht kommt zu spät. Wenige Tage später entscheidet sich Hans, das Präparat einzunehmen. Er schläft ruhig, zufrieden und mit sich im Reinen ein.


Der Film erzählt für mich die Geschichte eines Mannes, der auf eine erfolgreiche berufliche Laufbahn zurückblicken kann, zugleich aber ein intimes Porträt eines Menschen, der es verpasst hat, für andere da zu sein – für seine Ehefrau, für seinen Sohn. Hans stellt ein Familienmitglied dar, das nie vollständig Teil einer verbundenen Gemeinschaft wurde. Er hat es verpasst, ein soziales Netz aufzubauen, und denkt in seinen letzten Tagen nur noch daran, wie sein Tod aussehen soll – nicht daran, mit seinem Sohn Frieden zu schliessen. Hans’ abweisende, störrische Art schafft unnötige Distanz zu seinen Mitmenschen. Im Nachgang zu diesem Film stelle ich mir die Frage: Was hält das Leben für mich bereit? Welche Chancen oder Augenblicke habe ich vielleicht verpasst, um im richtigen Moment die richtige Entscheidung zu treffen? Momentan fühle ich mich sozial gut eingebettet. Mein Freundeskreis ist vielfältig und besteht aus unterschiedlichen Menschen. Ein Soziogramm, das ich kürzlich im Rahmen einer Weiterbildung erstellt habe, bestätigte das. Dennoch wirft die Geschichte von Hans moralische und ethische Fragen auf. Hans entscheidet sich, sein Leben zu beenden. Die liberale Sterbehilfe in der Schweiz erlaubt unter klaren Vorgaben ein assistiertes Sterben. Doch wie ist es zu bewerten, dass Hans das Präparat auf unrechtmässigem Weg erhält? Wie hätte ich in dieser Situation reagiert? Diese Frage ist für mich nicht zwangsläufig altersbedingt – gesundheitliche Schicksalsschläge können jeden treffen. Besonders beschäftigt mich die Frage, ob ich in einer tiefen, loyalen Freundschaft ein Sterbemittel besorgen würde. Freundschaft bedeutet für mich, andere im Leben zu bestärken. Gerade dann, wenn die gesundheitliche Situation noch lebenswert erscheint. Anders verhält es sich, wenn eine Person nicht mehr urteilsfähig ist. In diesem Fall kann eine Patientenverfügung Klarheit schaffen und Entscheidungen erleichtern. Willi hingegen entscheidet sich, Hans das Präparat zu übergeben. War es Loyalität, die ihn dazu bewog? Gab es Alternativen? Diese Fragen treiben mich um. Ich bin der Überzeugung, dass ich andere Wege gewählt hätte – Wege, die darauf abzielen, bedingungslos für die mir nahestehende Person da zu sein. Viellicht etwas, dass Hans in seinem Leben verpasst hat.


Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass das Gespräch zwischen Hans und seinem Sohn zu einer späten, aber bedeutenden Versöhnung führte. Die Worte „Es tut mir leid“ waren Balsam für die Seele des Sohnes. Doch die Möglichkeit eines Neuanfangs wurde durch Hans’ Entscheidung abrupt beendet. Ich kann mir vorstellen, dass der Sohn sich viele „Was-wäre-wenn“-Fragen stellt. Abschied nehmen von einem Vater, den er kaum kannte, ist eine Tragik, die ich zermürbend finde – egal, ob es sich um ein Familienmitglied oder einen Freund handelt. Was nehme ich aus Hans’ Geschichte mit? Es ist die Hingabe zu den Menschen, die mir wichtig sind, das Wertschätzen ihrer und meiner eigenen Geschichte. Es ist das Bemühen um Verbundenheit, Loyalität und gegenseitigen Austausch. Dinge zu tun, die dem inneren Kompass entsprechen – denn nach dem Tod ist es zu spät.

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