Weitblick.
- Daniel
- 14. März 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Feb.
Wie das Zweifeln bei der Sinnsuche hilft. Und wie Jonas seine Gelassenheit im Umgang damit findet. Hier der dritte Teil.

Zweifeln darf sein. Eine Einsicht die Jonas gleichermassen besorgt und befreit. Die Sinnsuche, das ewig denkende Hirn und der Gedankenstrudel. Daran zerbricht Jonas, mal mehr mal weniger. Der letzte Dienstag war einmal mehr so ein Tag, der die gedanklichen Verwirrungen zu einem anstrengenden Dienstag machten. Besonders deshalb, weil Jonas sein Leben in Relation zu Leo betrachtete. Zuerst verstossen, dann aufgefangen. Von Herzensmenschen. Tierfreunden. Leo ist ein 2-jähriger Rüde und lebt im südlichen Teil Spaniens. Nun ja, schwierig ist ein Vergleich eines Tier- zu einem Menschenleben. Doch Jonas versuchte zu abstrahieren, mit welchem Glück er in seinem Leben gesegnet ist. Und abgesehen davon, wie viel Leid es auch bei Menschen gibt. Jonas verlor viele Gedanken an Leo. Seiner Perspektive. Seiner Lebensform. Seiner Würde. Seinem Glück. Seiner Liebe. Und all das machte etwas mit ihm. Es machte ihn demütig. Traurig. Nachdenklich. Er versank in einer Gedankenwelt, die surreal wirkte. "Man müsste so vieles...", einer seiner Gedanken. Und gleichzeitig fand er sich wieder in einem Zwiespalt. Wer bin ich und was kann ich bewirken? Welche Spuren der Erinnerungen hinterlasse ich der Nachwelt? Wonach strebe ich? Ja, was ist der eigentliche Sinn des Lebens? Eine grosse Frage, die sich Jonas schon zu oft stellte. Denn, man wüsste ja so vieles!
In solchen oder ähnlichen Situationen helfen ihm zwei Dinge: Seine Bücherecke und der grosse Küchentisch. Am letzteren sass er. Auf dem dunklen Eichentisch flackert ein Kerzlein. Der Tisch ist halb abgeräumt vom Abendessen. Einzelne Brotkrummen liegen lustig verteilt auf dem ganzen Tisch. An der oberen, rechten Seite befindet sich ungeöffnete Post. Lieblos hingeworfen und doch mit einer gewissen Arroganz still liegend direkt vor seinen Augen. Auch etwas, was Jonas in diesem Moment störte. Es erinnerte ihn daran, die Steuererklärung zu vervollständigen. "Man müsste so vieles...", auch das noch. "Wie finde ich mich im Grossen zurecht, wenn ich selbst solch Kleinkram nicht hinkriege?!" schnauzt sich Jonas selbst an. Der Ärger darüber wurde ihm zu gross, weshalb er sich entschloss, einen koffeinfreien Kaffee zuzubereiten. Mit der Mocca. So viel Zeit muss heute sein. Und die Zubereitung soll zelebriert werden. Die Bewegungen sitzen Jonas locker im Handgelenk. Geübt und nüchtern-mechanisch hantierte er an der Mocca. Der untere Teil füllte er mit warmem Wasser. Frische Kaffeebohnen gemahlen, etwas gröber als üblich. Das Sieb füllte er vollständig bis unter den Rand. Überschüssiges Pulver streichelte Jonas sorgfältig vom Rand. Nun das Sieb einsetzen. Kanne oben aufschrauben. Herd an. Warten bis es beginnt zu sprudeln. Hitze reduzieren, bis es zischt. Kanne vom Herd. Warten. Ruhen lassen. Und in das vorgesehene Kaffeeglas füllen. Voila, ein perfekter Kaffeegenuss. Und eine perfekte Ablenkung von den Gedankenverwirrungen. Zurück am Küchentisch sortierte Jonas nicht nur seine Post. Auch seine Gedanken. Als erstes versuchte Jonas die Lebensumstände von Leo zu verstehen. Und was in seiner Macht zur Verbesserung dessen möglich ist. Es wurde eine kurze Abhandlung. Denn Jonas konnte beruhigt von sich behaupten, dass die Situation selbst durch eine direkte Adoption durch ihn nicht die gewünschte Besserung bringen würde. Ein Hund in Jonas' Leben wäre zwar die schönste Nebensache der Welt. Halt aber eben eine Nebensache. Nichts Richtiges. Und daher das Falsche für Leo. Und Jonas. Für den Moment begnügte er sich damit, dass es bei der finanziellen Unterstützung bleiben soll, damit mindestens ein Minimum an Tierwürde in Leos Leben möglich ist. Ja und dann widmete sich Jonas der grösseren Frage. Der Frage nach dem Sinn seines Lebens. Bei diesem Gedankensortieren kam ihm Fabio in den Sinn. Der 5-jährige Bub einer seiner besten Freundinnen. "Was für eine Welt hinterlasse ich Fabio?". 28 Jahre Altersunterschied liegen zwischen Jonas und Fabio. Fast drei Jahrzehnte. Wie sehen diese drei Jahrzehnte nach dem Tod von Jonas aus. Wenn Jonas nicht mehr auf der Welt ist. Er Fabio auf sich allein stellt. "Man müsste noch so viel". Der kräftige Geschmack des mittlerweile lauwarm gewordenen Kaffees stieg Jonas in die Nase. Dieser umhüllte die unmittelbare Umgebung von Jonas. Es fühlte sich an wie in einer Bubble. Einer zarten, zerbrechlichen. Jederzeit platzbereit. Und Jonas versank in dieser Bubble. Die abendlichen Umgebungsgeräusche verstummten. Verstummten wie vom Nebel verschluckt in den Tiefen der dunklen Nacht. Einzig das warme Kaffeeglas signalisierte, dass Jonas in der realen Welt ist. Es holte ihn wortwörtlich zurück an den Esstisch. Es erdete ihn. Der Blick geradeaus gerichtet. Die Augenlider leicht zugekniffen. Der Blick schärfte sich. Gleichzeitig spürte Jonas die selbstauferlegte Last, die ihn hemmte aufzustehen. Drei Jahrzehnte Altersunterschied. Und was davon ist beeinflussbar? Welche Verantwortung übernimmt Jonas für sich selbst? Gibt es von Aussen auferlegte Verantwortungen? Kann oder muss Jonas die Verantwortung für Fabio übernehmen? "Ja!" sagte Jonas. "Ich will eine gewisse Mitverantwortung für Fabio und dessen Generation übernehmen". Die jedoch damit verbundene Zweifel pochten Jonas im Kopf. Sein Schädel pulsierte, vielleicht vor Aufregung. Oder ob der Erkenntnis. Vielleicht zur Erleichterung. Jonas handelt in seinem Leben. Tag für Tag. Im Kleinen und Grossen. Die Bewertung dessen, wie er handelt, obliegt seiner eigenen Wertvorstellung. Das Auseinandersetzen, ob diese Handlung richtig und gut ist, dazu dient das Zweifeln. Nicht krampfhaft. Mit einer vernünftigen Portion an Reflexion. So bleibt für Jonas die sorgenreiche und befreiende Wirkung seiner Erkenntnis. Denn ja, man müsste noch so vieles.
Jonas verspürte in diesem Moment das Verlangen nach weiteren Antworten auf die kreisenden Fragen, die ihn zuvor plagten. Der Kaffeesatz in seinem Glas ist mittlerweile gänzlich am Tassenboden angekommen. Im übertragenen Sinne fühlte sich auch Jonas angekommen. Im Moment, der Realität angekommen. Raus aus der vorherigen Bubble. Rein in seine zweite Ruhe Oase, seiner Bücherecke. Diese ist bestückt mit Literatur, klassischer und zeitgenössischer. Ratgebern. Sach- und Fachliteratur. Hie und da verstecken sich sorgfältig ausgesuchte Accessoires. Zwei Kletterpflanzen schmücken das Bücherregal. Und eine minimalistische Leuchte im Industrial Look erhellt den Raum und taucht diesen in eine warme Atmosphäre. Ideal, um in den Büchern zu stöbern. Jonas mag diesen Augenblick. Das haptische Fühlen der Bücher. Vor allem die oft benutzten mit ihren teils tiefen Narben in den Buchcovern. Oder den verborgenen Notizen, die nur beim Herumblättern zum Vorschein kommen. Dann zusätzlich noch dieser eigensinnige Duft von Büchern. Beim Stöbern fiel Jonas "Das Buch der Liebe" in die Hände. Eine umfassende Zusammenstellung eines Schweizer Autorenteams, das der Frage nachgeht, was Liebe ist. Ist es Chemie? Emotion? Oder doch etwas Göttliches? In der Beschreibung zum Buch heisst es: Das Buch vereint neben kulturhistorischen Ikonen und Love-postings aus allen sozialen Netzwerken auch Beiträge und Gedanken aus unterschiedlichsten persönlichen, religiösen und sozialen Bezügen von mehr als dreihundert Künstlern und Autoren. Manchmal provokativ, oft humorvoll, kritisch und tiefgründig eröffnet das Buch in der Zusammenschau der unterschiedlichsten Standpunkte neue Perspektiven. Es bietet allerhand zum Schmunzeln, Träumen und Reflektieren und regt an, sich über den Stellenwert der Liebe des persönlichen Lebens und in unserer Gesellschaft Gedanken zu machen. Es dient Jonas auch zur Orientierung. Als Kompass sozusagen. Die Sinnsuche und das Zweifeln geraten für einen Moment in den Hintergrund. "Man müsste noch so vieles". Jonas wiederholte diese Aussage und kam beim Durchblättern des Buches auf die Idee, dass Liebe, Herzlichkeit, Aufmerksamkeit und eine tägliche Prise Nächstenliebe vielleicht den Anfang darstellen, um all die erwähnten Handlungen nachhaltig und sinnhaft zu gestalten. Generationenübergreifend. Für sich Selbst und die anderen. Das regelmässige Zweifeln daran öffnet den Horizont, den eigenen Lebenssinn dennoch vielleicht irgendwann zu finden. Jonas schliesst mit diesem Gedanken das Buch. Betrachtet das Softcover, fühlt es. Legt es auf seine Brust. Drückt es fest. Er schliesst die Augen. Und beendet damit den Dienstagabend, der ihn einmal mehr aufzeigte, wie das sorgenvolle Zweifeln mit der richtigen Reflexion dennoch befreit. Und mit Erkenntnis, dass vielleicht nicht die Suche nach dem Sinn des Lebens, sondern eher die Suche nach dem Sinn im eigene Leben von Bedeutung ist. Eines ist gewiss: Das Zweifeln ist, war und wird nicht sein letztes Mal gewesen sein. Denn, man müsste ja noch so vieles.
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